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„99 Prozent aller Viren sind unbekannt – das wollen wir ändern“

Im März wurde das European Virus Bioinformatics Center (EVBC) an der Universität Jena gegründet. Das EVBC wird mit seiner Gründung auch Partner des InfectoGnostics Forschungscampus Jena und soll Bioinformatiker und Virologen aus ganz Europa zusammenführen. Im Gespräch mit InfectoGnostics erläutert Prof. Dr. Manja Marz, geschäftsführende EVBC-Direktorin, wie wichtig die bioinformatischen Analysen zu Viren sind, mit denen das Zentrum künftig die Infektionsforschung am Campus erweitert.

Prof. Dr. Manja Marz, geschäftsführende EVBC-Direktorin

Mit Ebola, MERS und Zika gab es in den letzten fünf Jahren gleich mehrere schwere Ausbrüche von Vireninfektionen. Könnten solche Epidemien mit bioinformatischen Methoden besser vorhersagt und unter Kontrolle gebracht werden?

Manja Marz: Aufgrund des Klimawandels, der Zunahme von Fernreisen und des weltweiten Handels verbreiten sich Krankheitserreger rasant und viele Viren gelangen so auch in unsere Breiten. Mit einer Kombination aus Hochdurchsatz-Sequenzierungen und virenspezifischer Bioinformatik lassen sich bekannte Viren besser charakterisieren und vor allem unbekannte Viren entdecken. Die Charakterisierung solcher potentiellen Krankheitserreger ist also ein entscheidender Schritt, um einer nächsten Virus-Epidemie zuvor zu kommen. Denn noch immer sind 99 Prozent aller Viren unbekannt – das wollen wir ändern und haben deshalb das EVBC gegründet.

Bioinformatische Analysen sind bei anderen Krankheitserregern wie Bakterien und Pilzen schon seit Jahren Standard. Weshalb wurden Viren bislang kaum mit bioinformatischen Methoden untersucht?

Obwohl es gerade ein Virus war, bei dem 1977 die erste vollständige Genom-Sequenzierung erfolgte, hat sich die Bioinformatik bis vor wenigen Jahren eher auf größere Organismen fokussiert. Ein Grund dafür ist wahrscheinlich, dass Viren sehr spezifische Programme benötigen, die nicht auf andere Organismen übertragbar sind. Besonders bei der Untersuchung von RNA-Viren sind wir beispielsweise auf maßgeschneiderte Algorithmen angewiesen: Diese Viren bestehen aus einer oft einzelsträngigen und sehr kurzen Nukleinsäure und verändern sich deshalb besonders schnell. Bereits innerhalb eines einzelnen infizierten Menschen können diese Viren große Unterschiede zu ihren Artgenossen entwickeln.

Wie funktioniert die Hochdurchsatz-Sequenzierung? Und welche Herausforderungen ergeben sich dabei für die Bioinformatik bei der Untersuchung von Viren?

Zunächst werden Viren grob von ihren Wirtszellen durch Zentrifugation abgetrennt. Dann werden DNA oder RNA aus den Viren isoliert. Diese Extraktion erfolgt zunächst mit der klassischen Probenvorbereitung, die auch für Bakterien oder höher spezialisierte Organismen eingesetzt werden. Dann werden diese Nukleinsäuren in kleine Stücke geteilt, damit sie durch Sequenzier-Automaten abgelesen werden können. Diese Sequenzen aus den vier Basen des Erbguts müssen am Ende wieder wie ein Puzzle zu einem großen Stück, dem ursprünglichen Genom, zusammengesetzt werden. Dies ist bei Viren besonders anspruchsvoll, da diese sehr schnell mutieren und das Zusammensetzen dadurch eine deutlich größere Herausforderung darstellt. Mit neuester Sequenzier-Technologie verläuft dieser Prozess aber mittlerweile deutlich schneller als noch vor wenigen Jahren.

Und wenn Sie neue „DNA-Puzzleteile“ finden, haben Sie ein neues Virus entdeckt?

Exakt! Wenn wir Viren-Stämme miteinander vergleichen wollen, richten wir deren Sequenzen aneinander aus und bestimmen so ihre „evolutionäre Distanz“ zueinander: Je weniger sich zwei Sequenzen ähneln, desto größer muss die Zeitspanne gewesen sein, damit aus der einen Sequenz die andere entstehen konnte. Eine solche Evolutionsgeschichte der Viren könnte eine wichtige Grundlage liefern, um auch Verbreitungswege der Erreger besser zu verstehen.

Am Forschungscampus wird das EVBC eng mit Infektiologen und Technologie-Entwicklern zusammenarbeiten. Was versprechen Sie sich von diesem interdisziplinären Austausch am Campus?

Mit den Ärzten und Technologen am Campus wollen wir neue Methoden entwickeln, mit denen sich viele der noch unbekannten Viren detektieren und beschreiben lassen. Einerseits können wir dabei auf die Erfahrung am Campus bei der Forschung zu Bakterien- und Pilzinfektionen oder Sepsis aufbauen, andererseits leistet das EVBC selbst einen entscheidenden Beitrag, um die Jenaer Infektionsforschung noch breiter aufzustellen. Anknüpfungspunkte zu InfectoGnostics gibt es bereits jetzt recht viele, da einige Mitglieder des EVBC auch Partner von InfectoGnostics sind; zum Beispiel das Universitätsklinikum Jena, die Alere Technologies GmbH oder das Leibniz-Institut für Phontonische Technologien (IPHT).

Welche konkreten Ziele wollen Sie im Rahmen der Zusammenarbeit zwischen EVBC und diesen Partnern am InfectoGnostics Forschungscampus verwirklichen?

Zunächst sollen alle bekannten genetischen Informationen in einer neuen Virus-Datenbank aufgenommen werden – derzeit gibt es nämlich noch keine effiziente Speicherung viraler Sequenzen. Darüber hinaus sollen aber auch ganz fundamentale Fragen geklärt werden: Wie findet ein Virus seinen Wirt? Wie schleust es sich ein? Und wie vervielfältigt es sein Genom und findet anschließend  wieder den Weg raus aus der Wirtszelle? Für die meisten Viren sind all diese Mechanismen nicht bekannt. Mit bioinformatischen Werkzeugen wollen wir die Evolution von Viren besser beschreiben, um so mit industriellen Partnern am Forschungscampus auch neue Impfstoffe gegen Viren zu entwickeln.


Manja Marz ist Professorin für Bioinformatik für Hochdurchsatzverfahren an der Friedrich-Schiller-Universität Jena (FSU) und geschäftsführende Direktorin des EVBC. Das EVBC ist eine FSU-Einrichtung, die sich zum Ziel gesetzt hat, Experten aus der Bioinformatik und der Virologie aus ganz Europa zusammenzubringen.